Straßenproteste in Brasilien

Pastoralbrief der IECLB-Kirchenleitung

Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird ewige Stille und Sicherheit sein. - Jesaja 32,17

Jesus sagte zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren: »Wenn ihr bei dem bleibt, was ich euch gesagt habe, und euer Leben darauf gründet, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.« - Johannes 8, 31-32 (Gute Nachricht Bibel)

Liebe Brüder und Schwestern in Christus.

Gerechtigkeit und Wahrheit, Moral und Respekt, Transparenz und Dialog sind Werte, die der Demokratie innewohnen sollen. Es sind auch Werte, die das Leben und die Mission bestimmen, die Gott unserer Kirche, der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB), und dem ganzen Volk Gottes anvertraut hat.

Die letzte Volkszählung hat unter anderem ergeben, dass Brasilien ein Land ist, in dem die überwiegende Mehrheit der Einwohner sich als Christen bezeichnen. Deshalb geben sich auch unsere Regierenden zum groβen Teil als Christen aus und als Anhänger des Gottes, der sich durch die Propheten und durch Jesus Christus offenbart hat und als treuer Nächster an unserer Seite steht. Weil wir nun in einem demokratischen Staat leben und weil wir ein Land sind, für das die Werte des Reiches Gottes, wie die Gerechtigkeit, Einflussfaktoren sind, sollte es selbstverständlich zu erwarten sein, dass die Beherzigung der Wahrheit und die Beharrung auf Gerechtigkeit in allen Bereichen zu unserer Tagesordnung gehörten. Leider bestätigen die Fakten nicht den vorgetäuschten Zustand. Und das ist der Hintergrund, vor dem sich die Szenen abspielen, die wir in den letzten Wochen miterleben.

Es stimmt, dass Millionen von Menschen in unserem Land ihren Lebensstandard verbessern konnten. Die Liste dieser Fortschritte ist beachtlich, und das ist Grund zur Freude. Wahr ist aber auch, dass das Volk nach vielen Verbesserungen schreit, die bislang kein Echo gefunden haben bei denen, die die Macht und die Pflicht haben, dafür die nötigen politischen Entscheidungen zu treffen – und das ist bedauerlich. Zum Beispiel:

- Seit wie langer Zeit ist es schon augenfällig, dass die Versorgung der Kranken unzulänglich, barbarisch ist?

- Seit wie lange schon und mit welchem Nachdruck wird immer wieder bewiesen, dass dem Bildungswesen gröβere Beachtung gewidmet werden muss?

- Täglich werden wir mit Nachrichten über Korruptionsaffären in den politischen Kreisen und bezüglich öffentlicher Bauarbeiten und Dienstleistungen bombardiert. Bundespolizei und Staatsanwaltschaft kommen den aufgedeckten Fällen schon längst nicht mehr nach.

- Laufend wächst die Zahl der Menschen und Institutionen, die ihr Unbehagen melden hinsichtlich politischer Arrangements und opportunistischer „Koalitionen‘, die mit der Realität der Bevölkerung überhaupt nichts zu tun haben.

- Wie soll man sich damit abfinden, dass übel beleumdete Politiker und gar solche, die von der Justiz schon verurteilt sind, noch in der Regierung mitspielen?

- Seit wie lange...? - und hier können wir all das noch hinzufügen, was in den Straβen Brasiliens zu hören und auf den Plakaten zu lesen ist.

Solange es schien, als handle es sich um ein paar unzufriedene Demonstranten, und solange man meinte, die Regierung habe reichlich genug Errungenschaften vorzuweisen – solange staute sich unter der Oberfläche eine tatsächlich weit verbreitete Unzufriedenheit an. Sie macht sich jetzt Luft im Schreien nach Veränderungen. Die landläufige Redeweise von „unserer alienierten Jugend“ war reiner Kurzschluss. Das angestaute Schweigen hat jetzt Stimmen gekriegt. Es schreit in den Straβen, und die Straβen haben Millionen Anhänger gewonnen.

Was soll nun werden?

Wir maβen uns nicht an, definieren zu können, was sich in den Straβen Brasiliens momentan abspielt und noch weiterhin geschehen wird. Aber eines haben wir deutlich verstanden: Die Proteststimmen sind mit gröβerer Aufmerksamkeit und mit Respekt zu hören. Und vor allem: Aus dem aufmerksamen Hören müssen Konsequenzen gezogen und Änderungen herbeigeführt werden. Für die anstehende Tagesordnung proklamiert das Volk in den Straβen die Arbeitspunkte.

Und was uns, die Glieder der IECLB betrifft, ist zu prüfen: Inwiefern motiviert uns die Volksbewegung in den Straβen zur Beteiligung mit dem evangelischen Zeugnis? Historisch gesehen sind wir doch schlieβlich auch als Protestanten bekannt. „Ich lebe Gemeinde“ – Eu vivo comunidade (Jahresthema 2013 der IECLB) – heiβt engagiert sein im Kampf um die Gerechtigkeit, dessen Frucht Frieden ist. So werden Zeichen des Lebens aufgerichtet, das im Kreuz Christi seinen Ursprung hat. Es führt uns zur Begegnung mit anderen Menschen, es stärkt die Hoffnung und lässt uns erkennen, dass die Dinge nicht so bleiben müssen, wie sie sind.

„Ich lebe Gemeinde“ – Ich lebe Bürgerrecht!

So können auch wir, Glieder der IECLB und der Mengen, die nach Veränderungen rufen, wesentliche Beiträge leisten zum Aufbau eines Landes mit mehr Gerechtigkeit und Frieden unter den Mitmenschen. Wie kann das geschehen?

- Lasst uns jegliche Form von Gewalttat und Terrorakten zurückweisen, auch im Verlauf der gegenwärtigen Demonstrationen. Und lassen wir es nicht zu, dass solche Randale, wie sie immer wieder in den Medien herausgestellt werden, unseren Blick ablenken von der Tatsache, dass dringende Änderungen in unserem Land stattzufinden haben.

- Wir wollen uns stärker für den Dialog auf allen Ebenen einsetzen, Dialogmöglichkeiten bieten und anmahnen. Lasst uns nicht die Gelegenheit verlieren, auch wieder über politische Themen in unseren Häusern zu diskutieren - jawohl, in der Familie damit beginnen, mit den Eltern, mit den Kindern! Und lasst uns auch in der Gemeinde den Dialog besser üben. Gibt es dazu Chancen? Wie oft würden die Jugendlichen unserer Gemeinde sich gern zu Wort melden, sich beteiligen, auf Alternativen für den Trott in den Gemeindezirkeln hinweisen!? Haben wir ernstlich auf solche Erwartungen hingehört?

- Lasst uns ernster mit denen im Gespräch bleiben, die in den Bereichen der politischen Entscheidungen unsere Vertreter sind, und dazu von den Regierenden auf allen Ebenen mehr Dialog mit dem Volk einfordern! Wir wollen sie in den richtigen Entscheidungen unterstützen, aber sie sollen nicht nur so tun, als würden sie uns hören.

- Auf unserem Weg durch den Alltag wollen wir den Horizont im Licht der Wahrheit und der Gerechtigkeit im Auge behalten. Die biblische Wahrheit und Gerechtigkeit seien die Utopie, die uns mit Hoffnung zum Weitergehen erfüllt.

Ein Grundsatz unserer IECLB-Verfassung besagt: „Im Gehorsam gegen das Gebot des Herrn hat die IECLB als Ziel und Mission, das Evangelium Jesu Christi zu verbreiten; das evangelische Leben der Menschen in den Familien und Gemeinden anzuregen; den Frieden, die Gerechtigkeit und die Liebe in der Gesellschaft zu fördern; am Zeugnis des Evangeliums im Land und in der Welt teilzunehmen“ (Art. 3).

Eine groβe Gelegenheit für dieses Zeugnis gibt Gott jedem Gemeindeglied, insofern es seine bürgerliche Verantwortung wahrnimmt. Ser, participar, testemunhar - Eu vivo comunidade (Jahresthema 2013) - teilnehmen und Zeuge sein aufgrund der Gerechtigkeit und der Wahrheit, zu jeder Zeit und an allen Orten, als Antwort und in Treue zu Gottes Liebe für uns – das ist ein wichtiger Teil unseres Beitrags für ein Land, wo Gerechtigkeit und Frieden mehr und mehr gedeihen, sofern die Wahrheit richtungsweisend bleibt.

Pfr. Dr. Nestor Paulo Friedrich

Präsident der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien