Jüdisches Schweinfurt Teil 2

Jüdisches Schweinfurt 2

 
Zwischen Duldung und Verfolgung (2)
 
Die zweite jüdische Ära: Neuzeit: 1813-1942

1813:                           10.06.: Edikt „die Verhältnisse der Juden im Königreich Baiern betreffend“  („Juden-Edikt“, Dez. 1816 für Unterfranken in Kraft getreten): Juden werden fast die gleichen Rechte wie ihrem christlichen Umfeld zugebilligt. Sie dürfen jetzt Grund und Boden erwerben und erhalten Zugang zu den Universitäten des Landes. Geistige und gesellschaftliche Integration wird ermöglicht.

1817:               Michel Joseph aus Schonungen und sein Sohn Kusel erhalten durch kgl. Entschließung die Bewilligung zur Übersiedlung nach Schweinfurt

1863:               In Schweinfurt sind 12 jüdische Familien ansässig und 7 Fam. wohnhaft.

1864:               08.08.: Genehmigung der Kgl. Regierung zur Gründung der (neuen) Israelitischen Kultusgemeinde Schweinfurt

                        01.11: Verlegung des bisher in Niederwerrn befindlichen Sitzes des Distriktsrabbinates nach SW

1864-1890:      

 

  Erster Rabbiner: Mayer Lebrecht (1808-1890),

                      bereits seit 1840 Distriktsrabbiner in Niederwerrn

 

 

 

   

 

 

Niederwerrn: wo bis 1864 der Distriktsrabbiner amtierte; heute: Gemeindebücherei in der Schweinfurter Straße. Korrekt sollte auf der Tafel "Kultus-" und nicht "Kulturgemeinde" stehen! Niederwerrn: das ehemalige jüdische Schul-/Gemeindehaus, ebenfalls Schweinfurter Str.; heute: Altes Rathaus

1874:               04.09.: Einweihung der neuen Synagoge (im Innenhof des Grundstückes Siebenbrückleinsgasse 14) – zunächst: liberale reform-jüdische Richtung

                        Einweihung des (neuen) Israelitischen Friedhofes in SW als gesonderte Abt. X des Städtischen Hauptfriedhofs; zuvor wurden verstorbene Juden hauptsächlich in Euerbach und Schwanfeld bestattet.

 

 
Lageplan des Städtischen Friedhofs; Abt. X befindet sich vom Südeingang aus links - oberhalb des äußersten westlichen Ecks. Rund 200 Grabsteine illustrieren dort die wechselvolle Geschichte der Schweinfurter Juden.
   

Sie starben im I. Weltkrieg für ihr deutsches Vaterland.

   Sie starben während des II. Weltkrieges durch deutsche Hand.
   

Emigrantenschicksal: Frau Stein fand ihre letzte Ruhe in Jerusalem.             Bronze-Gedenktafel auf dem Friedhof (Text s. u. bei 1991)

1875:               In Schweinfurt leben 380 Juden bei einer Gesamteinwohnerzahl von 11233.

1888:               Bau des jüdischen Gemeindehauses (Schul- und Wohnhaus des Rabbiners) vor der Synagoge

1890-1934:    

Zweiter Rabbiner:

Dr. Salomon Stein

(1866-1938)

als Vorsitzender des Bundes gesetzestreuer israelitischer Gemeinden Bayerns prägt er die Gemeinde in traditionell orthodoxer Richtung

 

 

1897:               In SW gefundene menschliche Überreste vom mittelalterlichen Friedhof werden auf dem israelitischen Friedhof in Euerbach bestattet.

Grabdenkmal: „Hier liegen beerdigt die Knochenreste, die im Jahre 5657 (nach jüd. Zählung) in der Gemeinde Schweinfurt gefunden worden sind, als man den Friedhof aufdeckte, der vormals dagewesen zur Zeit, als Söhne Israels da wohnten, bis zur Zeit, da sie von dort vertrieben worden sind, wie dies sich vorfindet in den Büchern der Chronik.“

1912:               In Schweinfurt leben 468 Juden bei einer Gesamteinwohnerzahl von 25125.

1914-18:         113 Schweinfurter Juden leisten für das Deutsche Reich Kriegsdienst, darunter 92 im Felde. 68 erhalten eine Auszeichnung, u. a. 5 Offiziere.

„Israels Söhne und Töchter befanden sich in ihren Gotteshäusern am Vortag vor dem 9. (des jüd. Monats) Ab, dem traurigen Gedenktage der jüdischen Gemeinschaft und der jüdischen Geschichte. Da wurde die Kriegsbereitschaft erklärt und verkündet. Israels Söhne und Töchter fasteten und trauerten an jenem denkwürdigen Sonntag des 2. August in den Gotteshäusern um ihr Heiligtum. In den Schmerz und in die Trauer mischte sich nunmehr die Sorge und die Angst um des deutschen Vaterlandes Schicksal“ (Rabbiner Dr. Salomon Stein).

1920:               Enthüllung einer Ehrentafel in der Synagoge für 9 im Krieg gefallene und 3 vermisste Schweinfurter Juden. Im gesamten Rabbinatsdistrikt SW beklagen die zirka 1300 Juden 49 Opfer.       

                        Erweiterung der Synagoge um 50 Plätze

1933:               05. März: Wahltag mit hoher Beteiligung (96,2%); zum ersten Mal wird die NSDAP stärkste Partei der Stadt (33,9%).

1933:               01.04.: Tag des Boykottes jüdischer Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte; bereits tags zuvor besetzt die SA in Schweinfurt die Eingänge jüdischer Läden:

Wer hier kauft, begeht Landesverrat! Raus mit den Juden!

Parteizeitung „Fränkisches Volk“, 09. Sept. 1933: „Seit dem großen Boykott vermißt man bei den jüdischen Geschäften den großen Aufdruck auf Karton, Einwickelpapier und Huttüten. … Wir kennen aber doch die Leute, die bei Juden kaufen, denn gerade das neutralste Mäntelchen stempelt sie zum Volksverräter. Besonders an Samstagnachmittagen sind die weißen und blauen Einschlagpapiere leicht festzustellen, geschämig werden die Pakete unter den Arm geklemmt. Auch betreten die Käufer erst dann das Haus, wenn sie sich durch stetes Umblicken vergewissert haben, daß sie nicht beobachtet werden.“

                        In Schweinfurt leben 363 Juden (ca. 0,9% der Gesamteinwohnerzahl von 40058). Sie gehören überwiegend dem bürgerlichen Mittelstand an, sind Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Ärzte, Direktoren etc.: Waren-Haus Tietz, Schuhfabrik Emil Heimann, Schuhfabrik Silberstein & Neumann, Kleiderladen Firma M. Silbermann, Textil- und Kurzwaren Firma Schloss

1934-1939:    

Dritter Rabbiner:

Dr. Max Köhler,

ein Urenkel des Rabbiners Mayer Lebrecht

(1899-1987; 1939 nach England emigriert)

 

 

1935:               25.07.: Stadtratsbeschluss: Juden wird der Besuch der Schwimmbäder verboten.        Heraus mit den Juden aus den städtischen Bädern! Unsere Bäder sind judenfrei.

Oberbürgermeister Pösl: „Die Juden haben selber Schuld daran, daß ihnen das Baden verboten worden ist. Ein Gast, der sich nicht anständig betragen kann, muß immer gewärtig sein, daß er hinausgeworfen wird.“

                        15.09.: „Nürnberger Gesetze“: Am 15.11. werden in Schweinfurt die ersten Opfer des „Rasseschutzgesetzes“ festgenommen („Schutzhaft“). Es folgen „freiwillige“ Verkäufe jüdischer Geschäfte unter Wert, Geschäftsaufgaben oder –übernahmen (Arisierung).

1937:               Oktober: Noch 265 Juden leben in Schweinfurt.

1938:               Oktober: Noch 167 Juden leben in Schweinfurt.

9./10.11.: „Reichskristallnacht“: Am Nachmittag des 9. Nov. (Mi.) sind SA-Leute der Standarte 27 aus den Betrieben zusammengerufen worden. „Heut’ geht’s drauf, heut’ zeigen wir’s den Juden!“

                        Am Abend des 9. Nov., 19.45 Uhr, veranstaltet die Nazipartei, aus Anlass des 20. Jahrestages der Novemberrevolution von 1918 und des 15. Jahrestages des Hitlerputsches 1923, eine Gedenkfeier. Die fünf Ortsgruppen der NSDAP marschieren vom Gaswerk zum Marktplatz, wo sich 2800 Mann der NS-Formationen versammeln. Danach findet ein Fackelzug statt.

                        In den Morgenstunden des 10. Nov. (Do.) beginnen SA-Männer, Schaufenster einzuschlagen, das Inventar zu zertrümmern, die Waren zu zertrampeln und auf die Straße zu werden. Die Wohnungen bekannter Juden werden heimgesucht und verwüstet hinterlassen. Gegen 7 Uhr am Morgen verhaftet die Stadtpolizei 45 jüdische Männer und nimmt sie in der Hadergasse in „Schutzhaft“. Andere werden zum Viehhof getrieben, wo fanatische und aufgehetzte HJ-ler johlend und scherzend mit Steinen auf die verängstigten Menschen werfen. Etwa 30 Personen kommen in das Konzentrationslager Dachau, unter ihnen Rabbiner Dr. Max Köhler, der erst Ende Dez. (laut E. Böhrers Recherchen: 10. Dez.) wieder freigelassen wird und 1939 emigriert.

In der Siebenbrückleinsgasse versammeln sich die „anständigen“ Bürger vor dem Lehrerwohnheim (= Gemeindehaus) der jüdischen Gemeinde mit dahinter liegender Synagoge. Im Hof befestigt man einen Strick am Kastanienbaum und gröhlt: „Daran wollen wir den Rabbi hängen.“ Alsdann geht man daran, das Innere der Synagoge zu verwüsten, die Tora-Rollen zu verbrennen und die Kultgegenstände zu entehren. Im Gemeindehaus werden die Schulräume, das Büro und die Rabbiner-Wohnung verwüstet. Auch das Ritualbad wird zerstört. Allein die Tatsache, dass das Feuer auf die umstehenden Fachwerkhäuser übergegriffen hätte, bewahrt die Synagoge davor, angezündet zu werden. Der Oberbürgermeister der Stadt, Pösl, lässt es sich nicht nehmen, die Aktion persönlich zu leiten.

Die nichtjüdischen Schweinfurter sind über diese Ereignisse großenteils entsetzt - obgleich nicht immer aus Sympathie oder Mitleid mit den Verfolgten, sondern aus Bedauern über die Zerstörungen. Niemand kann sich darauf berufen, er habe von alledem nichts gewusst. Auch die Kirchen in Schweinfurt haben keinerlei Stellungnahme für die bedrängten Juden abgegeben oder sich irgendwie öffentlich für sie eingesetzt.

Es gab allerdings auch Solidarität mit den Juden am Ort. Einige nahmen jüdische Nachbarn, die keine intakten Fenster mehr hatten, auf. Andere unterstützten sie mit warmem Essen und Lebensmitteln. Unter großen Gefahren wurden Wertgegenstände versteckt, damit sie nicht von den Schlägerbanden zerstört oder gestohlen werden konnten. 

(Darstellung nach: DGB-Bildungswerk e.V. (Hrsg.), „Verschickt und verschollen …. 1942“. Reichspogromnacht 1938 und Judenverfolgung in Schweinfurt, Schweinfurt 1989)

Schweinfurter Tagblatt, 11.11.1938: „Wie im ganzen Reich kam es gestern auch in Schweinfurt aus Anlaß des von feiger jüdischer Mörderhand getöteten Gesandtschaftsrats vom Rath zu Kundgebungen der empörten Bevölkerung gegen das Judentum, wobei Aktionen gegen jüdischen Besitz durchgeführt wurden. Eine Anzahl Juden mußte in Schutzhaft genommen werden.“

1939:                           02. Jan.: Oberbürgermeister Pösl: „Sämtliche, in Schweinfurt vorhanden gewesenen, jüdischen Geschäfte sind erloschen.“

März: Die jüd. Gemeinde wird gezwungen, Synagoge und Gemeindehaus zu  einem Spottpreis an die Stadtverwaltung zu verkaufen. Die Synagoge wird in ein Feuerwehrdepot umfunktioniert. Ein religiöses Zentrum existiert nun nicht mehr.

                                   Oktober: Noch 77 Juden leben in Schweinfurt.

1940:              Oktober: Noch 72 Juden leben in Schweinfurt.

1942:              Seit 1933 sind auch Juden aus dem Umland in die Anonymität der Stadt SW gezogen: Bis 1942 ziehen 221 in andere deutsche Städte um, 225 emigrieren ins Ausland (davon 110 in die USA, 31 nach Palästina), 39 sterben in SW.

                       Endgültige Auflösung der Jüdischen Gemeinde. Juden werden in wenigen Häusern (sog. „Judenhäusern“), etwa in der Rückertstraße 17, zusammengepfercht. Augenzeugen berichten von nächtlichen Anlieferungen.

22./25.04.: Deportation von 30 Schweinfurter Juden über den Güterbahnhof Aumühle bei Würzburg ins Durchgangslager Izbica bei Lublin/Ostpolen. Dort verliert sich ihre Spur wie die von 51 Prozent aller mainfränkischen Juden. Umgebracht in Belzec und Sobibor?

 

 

Ausstellung "BlickWechsel":

Zwei alte Koffer als Symbol für Deportation und Vernichtung der Juden

09.09.: Deportation von 54 Schweinfurter Juden ins Ghetto Theresienstadt

21.09.: Deportation von weiteren 6 Schweinfurter Juden nach Theresienstadt

                       Oktober: Es leben noch drei Juden in „Mischehe“ in Schweinfurt

 

Das Innere der Synagoge vor ihrer Zerstörung  

1943/44:         Vernichtung der Synagoge durch Fliegerbomben; das beschädigte Gemeindehaus lässt sich wieder für Wohnzwecke herrichten.

                        Immer noch (über)leben jene drei Juden in Schweinfurt.

 

 

Ein großer freier Platz an der Siebenbrückleinsgasse:

Wer hier parkt, denkt wohl kaum daran, dass er sich auf dem Gelände der ehemaligen jüdischen Gemeinde Schweinfurts befindet.

 

 

 

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